Dichtermütter

Gestern Nachmittag bin ich spontan wieder einmal nach Cleversulzbach gefahren. Der Dichter Eduard Mörike hat hier von 1834 bis 1843 als Pfarrer gewirkt, bis er aus gesundheitlichen Gründen frühpensioniert wurde. Heute befindet sich in Cleversulzbach ein Mörike-Museum – nicht das einzige, aber ein sehenswertes. Zu Beginn seines Pfarramts, hatte der Dichter das fast vergessene Grab von Schillers Mutter entdeckt. Er spendete nicht nur ein schlichtes Grabkreuz, sondern verfasste auch ein Gedicht darauf:

Auf das Grab von Schillers Mutter

Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort
Ländliche Gräber umschliesst, wall ich in Einsamkeit oft.
Sieh den gesunkenen Hügel; es kennen die ältesten Greise
Kaum ihn noch, und es ahnt niemand ein Heiligtum hier.
Jegliche Zierde gebricht und jedes deutende Zeichen;
Dürftig breitet ein Baum schützende Arme umher.
Wilde Rose! dich find ich allein statt anderer Blumen;
Ja, beschäme sie nur, brich als ein Wunder hervor!
Tausendblättrig eröffne dein Herz! entzünde dich herrlich
Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst!
Eines Unsterblichen Mutter liegt hier bestattet; es richten
Deutschlands Männer und Fraun eben den Marmor ihm auf.

Als 1841 Mörikes Mutter starb, beerdigte er sie neben Schillers Mutter.

Zwei Dichtermütter im Tode vereint. Elisabetha Dorothea Schiller soll eine sanftmütige Frau gewesen sein, die ihre Kinder oft vor dem Jähzorn des Vaters in Schutz nehmen musste. Charlotte Dorothea Mörike bemühte sich, ihren Kindern mit Lebensfreude und Empfindsamkeit einen Gegenpol zur Ernsthaftigkeit des Vaters, der Medizinalrat war zu bieten. Zuletzt lebte sie zusammen mit der jüngsten Tochter Klara bei ihrem Sohn Eduard und führte ihm den Haushalt.  Goethe schrieb:

Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.

Der deutsche Schriftsteller Jakob Loewenberg (1856-1929) schrieb 1875 für die Gartenlaube einen Beitrag „Dichtermütter„.

»Es ist eine alte und richtige Bemerkung, daß die größten Männer aller Zeiten einen wesentlichen Theil ihrer geistigen Eigenart den geistigen Spillgütern der Mutter zu danken haben. Von der Mutter stammen die Keime ihrer Anlagen und Neigungen; die Mutter war es, welche sie zumeist gehegt und gepflegt hat. Aus dem Wesen der Mutter wuchs die Größe und Eigenthümlichkeit der Söhne heraus.«

Die Mütter von Goethe, Herder, Novalis, Bürger, Lenau, Heine, Zacharias Werner, Lord Byron und Alfons Lamartine zieht er als Beispiel für seinen Artikel heran, den er ausdrücklich den Frauen widmet.